News
| NEWS
Fachdienste im Praxistest: Erfahrungen aus der Telefonberatung
Der Psychologische Dienst arbeitete während des allgemeinen Shutdowns in den vergangenen Monaten ausschließlich vom Home-Office aus und stand den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu den gewohnten Zeiten telefonisch und per E-Mail für Fragen oder Probleme zur Verfügung. Ab dem 04.05.2020 kehrten die ersten Semester am BFW wieder in den Präsenzunterricht zurück und die Betreuung der Fachdienste wurde für die anwesenden Personengruppen wieder in persönlicher Form Face-to-Face durchgeführt. Inzwischen haben alle Semestergruppen wieder den Unterricht in Präsenzform aufgenommen.
Wie hatte sich die Arbeit für den psychologischen Dienst in der Phase des Distance-Learning organisatorisch verändert?
Peter Merkl: Nach der Schulschließung am 17. März haben wir sukzessiv die Assessment-Maßnahmen unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben abgeschlossen bzw. sie unterbrochen und uns analog zu den Rehabilitanden mit unseren Arbeitsmitteln nach Hause zurückgezogen. Die IT-Abteilung unseres Berufsförderungswerkes (BFW) hat uns dabei unterstützt, im Home-Office alles schnell zum Laufen zu bekommen. Wir waren dann bereits am nächsten Tag zu denselben Arbeitszeiten wie gewohnt erreichbar, entweder per E-Mail oder telefonisch. An unserer Arbeit hatten sich somit die räumliche Distanz und die Kommunikationsmöglichkeiten verändert, erreichbar waren wir für die Teilnehmer sowie für unsere Kostenträger aber wie gewohnt.
Die psychologische Beratung fand nun hauptsächlich via Telefon statt. Kann die Telefonberatung ein persönliches Gespräch mit Face-to-Face-Kontakt gleichwertig ersetzen?
Bettina Hübl: Nach den ersten Erfahrungen würde ich mit einem eindeutigen „Jein“ darauf antworten. Das Beratungsangebot wurde häufig genutzt – häufiger als anfangs erwartet – trotzdem ist die telefonische Beratung mit einem persönlichen Gesprächskontakt nicht vergleichbar. Von Vorteil ist es auf jeden Fall, dass wir unsere Teilnehmer in den allermeisten Fällen schon gut kannten und bereits auf gemeinsame Gesprächserfahrungen aufbauen konnten. Das war eine gute Basis.
Wie hat die Umstellung von der Betreuung vor Ort zur Telefonberatung geklappt?
Peter Merkl: Die Leitung des Berufsförderungswerkes hatte die Betroffenen und Leistungsträger unmittelbar nach der Schulschließung darüber informiert, dass die begleitenden Fachdienste weiterhin zur Verfügung stehen. Ich denke es war wichtig für die Teilnehmer, dies frühzeitig erfahren zu haben.
Martina Röhn: Die Teilnehmer, mit denen wir regelmäßig in Kontakt stehen, oder auch besondere „Problemkandidaten“, hatten wir zusätzlich proaktiv kontaktiert. Es ging uns dabei darum, nochmal eine Botschaft zu schicken, dass wir da sind, wenn sie uns brauchen. Deshalb hatten wir gezielt nachgefragt, wie sie mit der aktuellen Situation klar kommen und bei dieser Gelegenheit auch eine telefonische Beratung angeboten, wenn sie dies wünschten.
Wie war die Resonanz der Teilnehmer auf das Angebot?
Peter Merkl: Im Vorfeld dachten wir noch, dass das Angebot wohl nicht so häufig genutzt werden würde, zumal sich die Teilnehmer im Distance-Learning überwiegend im vertrauten häuslichen Umfeld befanden. Es kristallisierte sich dann aber sehr schnell heraus, dass der psychologische Dienst des BFW für manche Betroffene weiterhin ein wichtiger und verlässlicher Ansprechpartner bleiben musste, und dass das vertraute soziale Umfeld zu Hause nicht die professionelle psychologische Unterstützung ersetzen konnte.
Martina Röhn: Das Feedback, das ich bisher bekommen habe, ist überwiegend positiv. Es kamen viele persönliche und freundliche Antworten. Den Rehabilitanden mit Schwierigkeiten im persönlichen Kontakt kam das Gesprächsformat über Telefon manchmal sogar entgegen. Aus psychologischer Sicht muss das natürlich kritisch hinterfragt werden, da hierdurch möglicherweise ein vermeidendes Verhalten unterstützt wird.
Bettina Hübl: Einige Teilnehmer kamen sehr gut mit der allgemeinen Situation zurecht, waren aber dennoch dankbar für das Angebot der telefonischen Beratung. Teilnehmer mit Gesprächsbedarf standen im regelmäßigen telefonischen Kontakt mit mir. Ebenfalls war eine E-Mail-Beratung möglich, was von den Teilnehmern aus nachvollziehbaren Gründen allerdings deutlich weniger genutzt wurde.
Welchen Einfluss hat die Gesprächsatmosphäre bei der Beratung am Telefon?
Martina Röhn: Anfangs ist die Gesprächssituation wie im Dunkeln zu tappen, da die komplette non-verbale Kommunikationsebene entfällt.
Bettina Hübl: In der telefonischen Beratung rückt die Wahl der Worte viel stärker in den Vordergrund, es fehlt die für uns sehr wichtige visuelle Information mit Mimik und Gestik. Wesentlich ist auch eine ruhige Umgebung im Home-Office.
Peter Merkl: An psychologischen Beratungsgesprächen im Büro schätze ich es sehr, dass ich in einem ruhigen und geschützten Raum für einen angemessenen Zeitraum mit den Teilnehmern sprechen kann. Es entwickelt sich dann schnell eine Atmosphäre, in der man das psycho-physische Befinden des anderen wahrnimmt. In der Psychologie nennt man das „einen Rapport herstellen“. In einem telefonischen-Gespräch im Home-Office bestehen demgegenüber per se Einschränkungen – so ist beispielsweise ein kurzes Schweigen des Gegenübers schwieriger sinngemäß zu erfassen als im Gespräch vor Ort, da allein schon Gestik und Mimik fehlen. Der größere Abstand ermöglicht allerdings einzelnen Ratsuchenden auch mehr Offenheit beim Thematisieren von belastenden Inhalten.
Gibt es Probleme oder Schwierigkeiten, die aus der veränderten Gesprächsform resultieren?
Martina Röhn: Die Tücken der Telefonie bzw. Internet-Telefonie sind in der Beratung schon spürbar, da der Gesprächsfluss ein ganz anderer ist als unter normalen Umständen, wenn man sich beispielsweise manchmal gegenseitig ungewollt unterbricht.
Peter Merkl: Dieses Gesprächsmedium bringt zwangsläufig einige technische Probleme mit sich. Beispielsweise, wenn während Beratungsgesprächs Telefonanrufe eingehen, im schlimmsten Fall auch noch mit einer unterdrückten Rufnummer. Hier konnte ich dann noch nicht einmal zurückrufen.
Bettina Hübl: Durch die räumliche Distanz entfällt für uns aktuell auch ein ganzes Instrumentarium mit Übungen. Wir nutzen normalerweise gerne Atemübungen oder Körperwahrnehmungsübungen, aber diese sind per Telefon ganz einfach nicht realisierbar. Ebenso setzen unsere gesamten indikationsspezifischen Gruppenangebote wie beispielsweise unser Training gegen Prüfungsangst oder unser soziales Kompetenztraining physische Präsenz voraus und mussten während des Shutdowns ausgesetzt werden.
Welche Relevanz nahm bzw. nimmt das Thema ‚Corona‘ in den Beratungsgesprächen selbst ein?
Bettina Hübl: In den Medien war viel die Rede von einer Zunahme von Ängsten und Depressionen, ausgelöst durch Vereinsamung und soziale Isolation. Diese Tendenz können wir im Rückblick bestätigen: Die Themen waren zwar im Wesentlichen dieselben wie sonst auch, die Umstände verstärken aber mit Sicherheit die vorhandenen Ängste und Probleme. Die häusliche Isolation wirkte da wie ein Katalysator. Eine zunehmende Problematik mit häuslicher Gewalt oder auch mit Suizidalität, ebenfalls beliebte Dauerthemen in der öffentlichen Diskussion, konnte ich in meinen Gesprächen zum Glück nicht erkennen. Ich denke, dass der strukturgebende Rahmen des Distance-Learning und nicht zuletzt auch das Angebot der Fachdienste, also auch unsere Gespräche, dazu beigetragen haben, derart extreme Entwicklungen zu vermeiden.
Martina Röhn: Über Corona und die Folgen hatte bei mir zwar kein Teilnehmer explizit geklagt, allerdings wurden beispielsweise Leistungsängste oder Einsamkeit in dieser Phase verstärkt empfunden. Durch die Einschränkungen fielen die Kontakte zu den anderen Teilnehmern vor Ort weg, und auch der Ausgleich zum Lernalltag durch eine sinnvolle Freizeitgestaltung war nur noch eingeschränkt möglich.
Wie bewerten Sie die Maßnahmen, die ergriffen wurden, um die psychologische Beratung in dieser Form aufrecht zu erhalten?
Martina Röhn: Die aktive Kontaktaufnahme von unserer Seite, also den jeweils zuständigen Psychologen, ist als sehr positiv zu beurteilen. Man kann von sich aus bei Teilnehmern den Stand der Dinge erfragen, in Kontakt bleiben und sich trotz der räumlichen Distanz weiter kümmern. Ebenfalls positiv ist, dass die Rehabilitanden aktuell mit dem Distance-Learning eine absolut sinnige und fordernde Beschäftigung haben, durch die der Alltag trotz dieser schwierigen Zeit etwas Struktur behält.
Wie sieht Ihr Gesamtfazit aus?
Peter Merkl: Ein Großteil unserer Rehabilitanden hat mit psychischen Schwierigkeiten zu kämpfen, ist also in psychischer Hinsicht instabiler als die Bevölkerung im Allgemeinen. Dazu kommen berufliche Unsicherheit, oftmals auch eine zerrüttete häusliche Situation oder angespannte soziale Verhältnisse. Wenn man dies den täglichen Pressemeldungen während der Zeit des Shutdowns gegenüberstellt, in denen vor den hohen psychischen Belastungen aufgrund der Corona-Krise gewarnt wurde, dann denke ich, konnten wir unsere Teilnehmer ganz gut in dieser Krise unterstützen. Die Krise ist zwar noch nicht ausgestanden, aber ich bin zuversichtlich, dass wir nun, da der Präsenzunterricht wieder in allen Semestern angelaufen ist, mit unseren Teilnehmern konstruktiv durchstarten können. Mein Gesamtfazit: Für das Überwinden einer Durststrecke sind die Maßnahmen des „Home-Supporting“ gut geeignet, aber dauerhaft kann eine telefonische Beratung persönliche Gespräche vor Ort nicht ersetzen.
Bettina Hübl: Dem kann ich mich vollumfänglich anschließen. Man darf bei allen positiven Erfahrung der vergangenen Wochen und Monate nicht übersehen, dass es sich beim „Home-Supporting“ um eine zeitlich befristete Übergangslösung handelte. Als Dauerlösung ist telefonische Beratung sicherlich in unserem Bereich nicht geeignet. Wir, und damit meine ich nicht nur uns, sondern auch unsere Rehabilitanden, sind einvernehmlich froh, dass der Präsenzunterricht wieder begonnen hat und damit auch die Face-to-Face-Beratung. Ich sehe die Maßnahmen auch als adäquate Übergangslösung, aber definitiv nicht als Dauerlösung. Auch gehe ich davon aus, dass die Rückkehr zu den haltgebenden Strukturen bei den Umschülern zu einer allgemeinen Erleichterung führt.
Martina Röhn: Genauso wichtig wie der Blick zurück ist der Blick nach vorne. Wir hoffen nun natürlich, dass es bei der Gesamtsituation nicht zu einem Rückschlag kommen wird und wieder restriktive Maßnahmen oder gar ein erneuter Shutdown erforderlich werden sollten.
Vielen Dank für das Gespräch!